Die Türkei - Facts And Fiction
Am 15. Mai 2004 fand der Eurovisions –Song Contest in Istanbul, der größten Stadt der Türkei, statt. Wir Sind Europa organisierte daher nach zwei Abenden zu Estland (2002) und Lettland (2003) bereits zum dritten Mal eine Veranstaltung rund um das Gastgeberland des Eurovisions –Song Contests. Dabei war es unser Ziel, angesichts der noch in diesem Jahr zu erwartenden Entscheidung über die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen Mythen und Wirklichkeiten dieses beliebten Urlaubslandes einander gegenüber zu stellen, Unbekanntes abseits der Klischees ein wenig näher zu bringen, Vorurteile zu entkräften und begründete Ängste zu erörtern.
Zu Beginn erlaubte ein Kurzfilm, die Türkei in Bildern kennen zu lernen. Danach folgte eine Diskussion mit Dr. Cem Kinay, Mag. Sabine Kroissenbrunner (Politologin), Mag. Serafettin Yildiz (Schriftsteller und Poet) und Botschafter Dr. Wolfgang Wolte (Mitglied des Team Europe der Europäischen Kommission und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Europa-Politik). Ausgangspunkt des Gesprächs waren zuletzt in den Medien publizierte Schlagzeilen und Aussagen: „Zwischen Muezzin und Moderne“, „Gefangen zwischen Okzident und Orient“, „Ist die EU ein Christenklub?“, „Die Türkei verdient eine klare Antwort: Nein“ und „Die Türkei braucht Europa und umgekehrt“.
Im Zuge der äußerst lebhaften Diskussionsrunde hatte Moderatorin Margareta Stubenrauch einige Mühe, mit gezielten Fragen durchzudringen. Sabine Kroissenbrunner bezeichnete den Islam als Teil
Europas und meinte, man könne ebenso berechtigt wie im Fall des Islams auch die Frage stellen „Vatikan und Moderne“. Cem Kinay vertrat vehement die Ansicht, dass türkische und burgenländische
Dörfer nicht so verschieden seien – so wie auch v.a. die jungen Menschen sich ähnlich kleiden, die gleiche Musik hören, etc. Außerdem stellte er fest, dass die Türkei als Teil des osmanischen
Reiches immer „Europa“ war. Als Argumente für einen türkischen EU-Beitritt führte er den großen Markt, die Verbesserung der Sicherheitssituation und die Jugend der türkischen Bevölkerung an. Er
stellte auch die provokante Frage, inwieweit die EU reif für die Türkei sei. Kinay bedauerte, dass die Diskussion immer darauf reduziert wird, „wer zahlt und wer nimmt“.
Auch Serfettin Yildiz kritisierte, dass es Europa an Visionen mangle. Er fühlte sich oft von Europa schlecht behandelt und warnte, dass unser Denken zu eurozentristisch sei. Botschafter Wolte
wiederum bezeichnete die europäische Einigung als gelebte Vision und erläuterte, dass die eben erfolgte Aufhebung der Teilung Europas in Ost und West nur durch die Existenz der EU möglich war. Er
äußerte die Vermutung, dass der Bericht der Europäischen Kommission die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen empfehlen und der Europäische Rat dieser Empfehlung folgen werde.
Sabine Kroissenbrunner bezeichnete den EU-Beitritt der Türkei als ein „Friedensprojekt auf den Trümmern des Ersten Weltkriegs“, im Vergleich zur derzeitigen EU, die sich aus den bitteren
Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges heraus entwickelt hatte. Cem Kinay äußerte sich drastischer: „Entweder wir werden kaputt oder wir werden besser - aber so bleiben wir nicht.“
Im literarischen Teil des türkischen Abends las Serafettin Yildiz Gedichte unter dem Motto „Im Süden des Lebens“, und ließ uns dabei auch die türkische Sprache hören. Für die musikalische
Umrahmung sorgte Mansur Bildik mit den anatolischen Langhalslauten Saz, Baglama und Tar, der sich gerne zu einer Zugabe überreden ließ. Durch den Abend führten Nadja Wozonig und Hannes Heissl.
Nach einer verdienten Pause folgte die Übertragung des Eurovisions –Song Contests, der mit dem Sieg der Ukrainerin Ruslana endete.
Margareta Stubenrauch und Nadja Wozonig, 1. Juni 2004