The Future of Europe

Jean-Claude Piris, Cambridge University Press, 2012

148 Seiten, ISBN 9781107662568

 

Eher selten greifen hochrangige europäische BeamtInnen zur Feder. Daher ist dieses Buch des ehemaligen Generaldirektors des Juristischen Dienstes des Rates eine bemerkenswerte Ausnahme. Piris beginnt mit den Problemen: Finanzkrise, steigende Entfremdung der Öffentlichkeit gegenüber der europäischen Idee und unzureichende europäische Institutionen. Dann analysiert er die Stärken Europas, insbesondere im Vergleich mit anderen Regionen der Welt: hohes Bildungsniveau, soziale Absicherung, gute öffentliche Dienstleistungen und vergleichsweise stabile Regierungen und Rechtssysteme. Die geringe Fläche, die Überalterung der Bevölkerung und der Mangel an natürlichen Ressourcen erfordern europäische Zusammenarbeit, um diese Stärken erhalten zu können.

 

Aber die Europäische Union ist derzeit schlecht gerüstet, um diese Herausforderungen zu meistern. Piris identifiziert die folgenden strukturellen Schwachpunkte:

- die schwierige Entscheidungsfindung im Rat

- die voranschreitende Schwächung der Europäischen Kommission

- die unzureichende Legitimität des Europäischen Parlaments

- die schwierige Geburt des Europäischen Auswärtigen Dienstes

- der unvollendete Binnenmarkt - die Konstruktionsfehler der Währungsunion

- die unzureichende Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen

- der sehr langsame Fortschritt im Bereich Sicherheit und Justiz.

 

Zur Lösung all dieser Probleme entwickelt der Autor vier Szenarien:

 

Szenario 1: Substantielle Vertragsänderung Piris widmet diesem Szenario, das er als wenig realistisch einschätzt, nur sieben Seiten.

 

Szenario 2: "Business as usual" mit engerer Zusammenarbeit Dieses Szenario ist dem Autor schon 35 Seiten wert. Es basiert auf der bereits bestehenden Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der Verträge. Zudem ist auch Kooperation außerhalb der Verträge möglich, solange EU-Recht respektiert wird. Weiters gibt es jetzt schon zahlreiche Opt-Outs. So nimmt Großbritannien am Euro und am Schengenraum nicht teil. Es gibt also bereits ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

 

Szenario 3: Politischer Weg zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten: Dieses Szenario ist quasi die Fortschreibung des Status quo, mit dem Unterschied, dass die Bereiche der verstärkten Zusammenarbeit vorab in einer politischen Erklärung festgehalten werden. Da in diesem Szenario die Opt-Out-Möglichkeiten bestehen bleiben, ist das Risiko der Fragmentierung groß.

 

Szenario 4: Rechtlich verankertes Europa der zwei Geschwindigkeiten: Hier bricht er durch, der Europa-Jurist Jean-Claude Piris. Das ist sein Szenario: pragmatisch, aber rechtlich solide. Die "Avantgarde" der beteiligten Mitgliedsstaaten schließt einen Vertrag, der die Bereiche der Zusammenarbeit enthält. Es gibt keine Opt-Outs, aber allen ursprünglich nicht beteiligten Staaten steht der Weg in diese engere Zusammenarbeit offen (Opt-In). Die Inhalte der Zusammenarbeit betreffen die oben angeführten Schwachpunkte.

 

Piris selbst bezeichnet eine substantielle Vertragsänderung (Szenario 1) als die beste Option. Wenn diese aber derzeit politisch unmöglich ist, dann ist seine "Avantgarde-EU" immer noch besser als der jetzige Zustand, zumal der Autor nicht müde wird, zu betonen, dass zwei Geschwindigkeiten nicht zwei Klassen bedeutet. Piris' Buch ist trotz der komplexen Inhalte gut zu lesen, was an seiner stilistischen Klarheit liegt. Warum derartige Beiträge zur Europa-Debatte, wie auch andere interessante Bücher über die EU, z. B. The Accidental Constitution niemals auf deutsch übersetzt werden, bleibt ein großes Rätsel und ein noch größerer bedauernswerter Umstand.

 

Margareta Stubenrauch, 17. Juli 2012